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<title>Wie man ein öffentliches Warnsystem (nicht) aufbauen sollte</title>
</head>
<body>
<h1>Wie man ein öffentliches Warnsystem (nicht) aufbauen sollte</h1>
<p>
Wie kann man Menschen am besten vor Katastrophen warnen? Deutschland
setzt auf proprietäre Apps, wodurch der jüngste "Warntag" zu einem
offiziellen Misserfolg wurde. Wir haben die Situation analysiert und
robustere Lösungen gefunden, die Nutzerrechte respektieren.
</p>
<p>
Die Grundidee des Testens von Notfallsystemen besteht darin,
potenzielle oder tatsächliche Probleme zu finden. Es ist jedoch
bemerkenswert, wie viel beim offiziellen deutschen Warntag im
September schief gelaufen ist. Insbesondere die <a
href="https://www.tagesschau.de/inland/warntag-115.html">Unzuverlässigkeit</a>
der offiziell beworbenen, unfreien und nicht standardisierten Apps
zwang das zuständige Bundesinnenministerium (BMI), welches dem
zuständigen Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
(BBK) übergeordnet ist, den Testtag als gescheitert zu kennzeichnen.
</p>
<p>
Die FSFE analysierte die Ergebnisse zusammen mit Experten aus
Katastrophenschutz und mobilen Netzwerken, um herauszufinden, warum
die Apps fehlschlugen und wie ein belastbareres und offeneres System
aussehen kann.
</p>
<figure>
<img
src="https://pics.fsfe.org/uploads/medium/8a77a3fbd5eb790cf94b2f115f6f94f3.jpg"
alt="Ein rotes Notfalltelefon" />
</figure>
<h2>Digitale Warnsysteme in Deutschland</h2>
<p>
Es gibt drei prominente, öffentlich finanzierte Apps, die offizielle
Notfallwarnungen an ihre Benutzer weiterleiten können: Katwarn, Nina
und Biwapp. Alle drei sind proprietär, also unfreie Software, die es
ihren Benutzern nicht erlaubt, die Software zu benutzen, zu
studieren, zu teilen und zu verbessern. Darüber hinaus basieren sie
darauf, Notfallwarnungen vom zentralen <em>MoWaS</em> ("modulares
Warnsystem") abzurufen und diese über die WLAN- oder mobile
Internetverbindung an die Mobiltelefone der App-Nutzer
weiterzuleiten.
</p>
<p>
Eine Überlastung dieses zentralen Systems war der Hauptgrund dafür,
dass viele Alarme die Nutzer der App nicht oder nicht rechtzeitig
erreichten. Das kam jedoch nicht überraschend. In einem Szenario, in
dem Millionen von Geräten gleichzeitig von einer zentralen Instanz
mit Eins-zu-eins-Verbindungen (<em>unicast</em>) erreicht werden
müssen, sind solche Engpässe fast unvermeidlich.
</p>
<p>
Die zugrunde liegenden Probleme sind jedoch unnötige Komplexität und
Mehrfachstrukturen. Anstatt große Mengen öffentlicher Gelder in
zentralisierte Systeme und drei proprietäre Anwendungen zu
investieren, betreiben andere Staaten eine widerstandsfähigere und
gut getestete Infrastruktur für die Verteilung von
Notfallnachrichten: SMSCB, häufiger auch <em>Cell Broadcast</em>
genannt, also Eins-zu-viele-Nachrichten.
</p>
<h2>Cell Broadcasts</h2>
<p>
Um 1990 standardisiert, sind Cell Broadcasts eine etablierte Methode,
um Nachrichten an alle Benutzer von Mobilfunknetzen zu senden,
entweder in einem ganzen Land oder begrenzt auf bestimmte Gebiete
und zwar in weniger als ein paar Sekunden. Die Telefone müssen nicht
einmal in einem bestimmten Netz registriert sein, um diese
Nachrichten zu empfangen, und Alarme mit der höchsten Priorität lösen
sogar einen Alarm aus, wenn das Telefon stumm geschaltet ist. Außerdem
haben solche Broadcasts im Gegensatz zu SMS und mobilem Internet einen
reservierten Kanal, der auch dann funktioniert, wenn die
Telefonzellen mit vielen eingewählten Geräten und Nachrichten
überlastet sind.
</p>
<p>
Darüber hinaus können Cell Broadcasts von jedem Telefon empfangen
werden, unabhängig davon, ob Notfall-Apps, ein aktuelles
Betriebssystem oder proprietäre Google/Apple-Dienste installiert
sind. Da es sich um eine Eins-zu-viele-Kommunikation handelt, gibt es
auch keine Datenschutzbedenken. Diese klaren Vorteile veranlassten
die Europäische Union zu der Entscheidung, das zukünftige <a
href="https://de.wikipedia.org/wiki/EU-Alert">EU-Alert-System</a>
Cell Broadcats basieren zu lassen. Als Richtlinie muss dies von allen
EU-Mitgliedsstaaten bis Juni 2022 umgesetzt werden, es sei denn, ein
Staat kann einen Dienst mit einer ähnlich zuverlässigen Leistung
anbieten - was eine sehr hohe Schwelle ist.
</p>
<p>
Ungeachtet dieser Vorteile hat sich Deutschland im Gegensatz zu
anderen Ländern wie den Niederlanden, Griechenland, Rumänien, Italien
oder den USA dafür entschieden, sein Notfallwarnsystem nicht auf dem
SMSBC-Standard aufzubauen. Da es keine offizielle Verpflichtung dazu
gibt, haben die meisten Mobilfunknetzbetreiber diese Funktion aus
Kostengründen deaktiviert. Stattdessen fallen für den Steuerzahler
wesentlich höhere Kosten an, um ein isoliertes System und
dazugehörige proprietäre Anwendungen zu finanzieren.
</p>
<figure>
<img
src="https://pics.fsfe.org/uploads/big/f790c7602451468f95091e50dc7988d1.jpg"
alt="EU-Alert/NL-Alert Cell Broadcast message" />
<figcaption>EU-Alert/NL-Alert Cell Broadcast-Nachricht aus dem Jahr 2018.
CC-BY-SA-4.0 von WarningMessageDelivery</figcaption>
</figure>
<h2>Warn-Apps</h2>
<p>
Trotz der klaren Vorteile von Cell Broadcasts haben separate
Warn-Apps ihre Berechtigung. Benutzer können verschiedene
Informationen über andere Regionen und vergangene Geschehnisse
einsehen. Einen großen Teil der Notfallkommunikation auf diese Apps
zu stützen, hat sich jedoch als zu anfällig dafür erwiesen, beim
Ausfall einer Komponente komplett zu versagen.
</p>
<p>
Darüber hinaus müssen sie aufgrund ihrer kritischen Rolle für die
Öffentlichkeit <a href="/freesoftware/">Freie Software</a> sein und
auf <a href="/freesoftware/standards/">Offenen Standards</a>
aufbauen. Nur mit den Freiheiten, Software frei benutzen, studieren,
teilen und verbessern zu können, können sie von Bürgern und
unabhängigen Sicherheitsforscherinnen analysiert werden. Das
wiederum erhöht das Vertrauen und die Bereitschaft, eine ergänzende
Warn-App zu installieren, wie die praktischen Erfahrungen mit den
Corona-Tracing-Apps zeigen.
</p>
<h2>Fazit</h2>
<p>
Unsere Analyse schließt mit drei zentralen Ergebnissen, die nicht nur
die verantwortlichen Verwaltungen, sondern auch andere Akteure im
Auge behalten sollten.
</p>
<ul>
<li>
Die Grundlage der Notfallkommunikation von Behörden zu Bürgern
sollte ein standardisiertes, belastbares System bilden, das in der
Lage ist, Millionen von Nachrichten an möglichst viele Geräte zu
senden. Das muss dabei unabhängig von deren Betriebssystem oder installierter
Software sein. Gegenwärtig scheinen SMSBC, also Cell Broadcasts, die
bestmögliche Umsetzung zu sein, die in zahlreichen Staaten gut
funktioniert. Daher begrüßen wir, dass die EU sich dafür
entschieden hat, EU-Alert auf Cell Broadcasts basieren zu lassen.
</li>
<li>
Warn-Apps können eine nützliche Ergänzung sein. Besonders für
öffentlich finanzierte Anwendungen ist es entscheidend, die
Software unter einer Freie-Software-Lizenz zu entwickeln und zu
veröffentlichen, getreu dem Prinzip <a
href="https://publiccode.eu/de">Public Money? Public Code!</a>.
</li>
<li>
Das Testen von Warnsystemen ist wichtig, und die geplanten regelmäßigen Warntage
sollten auch in Zukunft beibehalten werden. Es ist normal, dass bei
diesen Tests Fehler auftreten, aber sie dürfen nicht beschönigt
werden, sondern erfordern eine gründliche Analyse und Verbesserung.
</li>
</ul>
<p>
In diesem Sinne haben die zuständigen Verwaltungen, BBK und BMI, viel Arbeit vor
sich. Aber es ist machbar, sowohl aus praktischer als auch aus
finanzieller Sicht.
</p>
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<tag key="de">Deutschlamd</tag>
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